WG63 – Briefentwurf an Alma Mahler
Potsdam, Freitag, 2. September 1910
Ich stehe auf einem alten Turm gegen-
über von und grüße
Dich! Es ist sonnenklar und man
sieht fast bis an die Alpen.
wie lächerlich winzig sind die Leistungen
des Auges gegen die alles durch-
dringenden Gedanken
Sehnsucht. Es ist nicht gut
wenn man nur Kopf u Gedanke
ist und den Körper knebelt
Deine Musik?
Wie soll man sich körperlich frisch erhalten
bei dem Kasteien
Ich glaube fast bei Männern ist das
aus physischen Gründen
Es ist alles so klein,
kann nicht anders handeln
es verlangt von ihm die Klugheit
u sein Herz so. Die Nähe ist
so gebieterisch viel gewaltiger,
wie das geschriebene Wort, darum
ist er mir überlegen
aber es scheint mir unmöglich
daß Du ihm alles wieder schenken
kannst
Ich habe qualvolle Tage
hinter mir.
Ich weiß nichts von Deinem
Geburtstag von Deinen Fragen
Briefe besser zukleben, kommen
immer halboffen an.
_______________
Alles das gilt nur wenn
Du mich wirklich für Dein
innerstes Menschenleben brauchst
nicht nur sinnlich, sondern
als Mensch, als verwandte,
alles verstehende Seele. Nur
wenn dem so ist, denn
ich will Dir helfen, nicht Dir
schaden.
Gebs Gott daß Dein gesunder
Instinkt mich recht versteht
u Du nicht einen Haß oder
Feindschaft gegen Deinen
erblicken läßt, der mir immer
fern liegt.
Schlimme Tage. \einsames Bette es nimmt täglich zu/ Nachts
konnte ich nicht schlafen vor
Sehnsucht
viel verklungene Echolose
Fragen habe ich Dir gesandt
Trübsinn
Ich kann es nur dann ertragen,
wenn ich in dauerndem Briefver-
kehr mit Dir bleibe, so daß ich das
Gefühl behalte wir leben geistig
miteinander – und wenn
ich Dich von Zeit zu Zeit in meinen
Armen halten kann. Wenn
nicht, werde ich krank. Keine
Untreue, die ist unmöglich.
Ich schreibe nicht im Affekt
alles ich überlege alles auf gründ-
lichste und wäge mit Gerechtigkeit.
So kam ich zu dieser Überzeugung
Wir sind nicht mehr im
Mittelalter
Das Schweigen macht unsicher
u mißtrauisch – und das ist
schrecklich
Du bist in die Enge getrie-
ben. Laß mich nun einmal
sprechen. Die Gefahr die mich
in Verzweiflung bringt läßt
mich sprechen \öffnet mir die Lippen/. Wenn wir nachgeben
den träumenden Wünschen des ande-
ren so reißt wirklich ein Stück
ab \so ist unsere Liebe verloren/
und ich nehme die Gefahr auf mich des Mißver-
ständnisses auf mich, denn eigentlich sollte ich nur
mündlich hierüber mit Dir reden
[am linken Blattrand:]
nur so sind die vielleicht vielen Jahre zu ertragen, wenn nicht ist garnicht ab-
zusehen, was alles an Blüthe u Kraft untergehen kann
Ich schreibe darüber so eingehend
u traurig, weil ich fürchte darin
einen Grund erblicke, daß Du
doch noch nicht ganz (oder mehr?)
mein Vertrauen und meine
dauernde Nähe auch als Mensch
für notwendig empfindest?
Ich bitte Dich, schreibe mir aufrichtig
darüber
Ich habe diese Gedanken ständig
verscheucht, aber sie kamen immer
wieder
_________
Ich sitze allein in der Sonne
am großen Springbrunnen in
; ich liebe diese Schöpfung,
es ist ein wahrhaft königliches
Machwerk
Ich mache meine stillen Beobachtungen
an den Menschen u fühle mich vollkommen
ausgefüllt u belustigt. Es ist eigent-
lich das, was mich an der großen Stadt
reizt. Nur dort sieht man so reiches
verschiedenartiges Menschenmaterial,
das man vergleichen registrieren
durchschauen kann. Eine unendlich
reizvolle Beschäftigung
____
Die ganzen Terrassen sind besäumt
mit Dahlien in einer Farbe rot – die
Wirkung der Quantität ist viel größer
wie die der Qualität
Apparat
Überlieferung
, , , , , , , .
Quellenbeschreibung
4 Bl. (4 b. S.) – Notizblock.
Druck
Erstveröffentlichung.
Korrespondenzstellen
Beantwortet durch AM27 vom 3. September 1910 (Als ich ihn heute per Wagen hinunter brachte […] weinte er fast – und er sagte, er habe sich so gefürchtet, dass er da allein werde weggehen müssen […]. Ich weiß, dass ich ihn verehre und behüten will – aber Dich allein liebe): Gusta.[v] kann nicht anders handeln es verlangt von ihm die Klugheit u sein Herz so. Die Nähe ist so gebieterisch viel gewaltiger, wie das geschriebene Wort, darum ist er mir überlegen.
Datierung
Die Bemerkung Ich weiß nichts von Deinem Geburtstag hatte WG bereits in WG59 vom 31. August 1910 leicht verändert formuliert (Auch heute an Deinem Geburtstag muß ich ohne Nachricht von Dir ins Bett steigen), weshalb der vorliegende Entwurf in zeitlicher Nähe zu AMs Geburtstag am 31. August und WGs verspätetem Geburtstagsbrief vom 1. September 1910 entstanden sein muss (s. WG62). Da der Entwurf inhaltlich auf WGs Ausflug zum Normannischen Turm auf dem Ruinenberg Bezug nimmt und AMs Geburtstag bis auf den erwähnten Passus unerwähnt lässt, muss dieser Entwurf nach dem 1. September entstanden sein. Da AM bereits am 3. September auf die Inhalte des vorliegenden WG63 antwortete, kommt nur der 2. September 1910 als Entstehungsdatum in Frage.
Übertragung/Mitarbeit
(Bettina Schuster)
alten Turm – der auf dem Ruinenberg in Potsdam, entstanden 1845/1846, Architekt .
Sanssouci – ehemalige Sommerresidenz der preußischen Könige und deutschen Kaiser in Potsdam, 1745–1747 von und gebaut.